Die aktuellen industriepolitischen Debatten wirken oft wie der Stoff aus Science-Fiction Romanen. Humanoide Roboter, synthetische Organe und Fleischersatz aus dem Labor, die gezähmte Kraft der Sonne in Kernfusionsreaktoren und Quanten-KI. Viele der industriepolitischen Strategien setzen auf solche Hoch-Technologien. Absurde Spielerei für Sci-Fi-Nerds oder doch notwendige strategische Orientierung in Zeiten eines zunehmenden globalen Wettstreits um die Technologieführerschaft?
Einer der berühmtesten Science-Fiction Autoren des 20. Jahrhunderts war Arthur C. Clarke. Der Durchbruch gelang ihm mit seinem Roman „2001 - Odyssee im Weltraum“. Clarke prägte wie kein anderer die Sci-Fi-Literatur und hinterließ auch darüber hinaus deutliche Spuren. So ging ein Zitat Clarkes in den allgemeinen Sprachgebrauch über. Nämlich seine Beschreibung des Verhältnisses zwischen Technologie und Magie. Nach Clarke ist „Jede hinreichend fortgeschrittene Technologie von Magie nicht zu unterscheiden.“. Dieser Ausdruck besagt, dass wenn eine Technologie so fortschrittlich ist, können technische Laien den Unterschied zwischen Magie und Technologie nicht mehr erkennen. Ein Satz, der uns bei Durchblättern der neusten technologischen, medizinischen und wissenschaftlichen Berichterstattung deutlich in uns nachhallt. Wir sind zugleich fasziniert und erschrocken von den technischen und naturwissenschaftlichen Errungenschaften. Gleichzeitig finden die, oft wie Magie anmutenden, Hochtechnologien immer mehr Eingang in industrie- und innovationspolitische Strategien. Was erwarten sich Industriepolitiker:innen und Innovationsforscher:innen eigentlich davon? Eine Spurensuche am Rande des Vorstellbaren.
Das Hoffen auf High-Tech
Die Erwartungshaltung an Hochtechnologien für die wirtschaftliche Entwicklung ist groß – egal ob Hochtechnologien, Schlüssel-, Zukunftstechnologien oder wie man sie sonst bezeichnet. Ihre gezielte Förderung und die politischen Schwerpunktsetzungen auf sie sind von Erwartungen durchdrungen. Sie sollen einen Vorteil bzw. einen Vorsprung bieten. Sie sollen also Wohlstand schaffen. So hat sich die Art, wie wir uns fortbewegen oder kommunizieren, grundlegend geändert. Sie sollen dazu beitragen gesellschaftliche Herausforderungen, wie den demografischen Wandel und die Klimakrise, zu meistern und Startpunkt für wirtschaftliche Transformationsprozesse sein. Denn technologischer Vorsprung soll auch Hand in Hand mit der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit gehen und technologische Souveränität fördern.
Der Schlüssel, so die Hoffnung, sind Schlüssel- oder auch „Key Enabling Technologies“ (KET). Sie sind wissens- und kapitalintensive Querschnittstechnologien mit breitem Anwendungsspektrum, die kontinuierlich weiterentwickelt werden, hohes Marktpotenzial für zahlreiche Wirtschaftszweige besitzen und als Grundlage für Innovation, industrielle Wettbewerbsfähigkeit und nachhaltiges Wachstum dienen. Industrie- und innovationspolitische Strategien nehmen sie deshalb durch gezielte Förderungen, unterstützende Rahmenbedingungen und finanziellen Anreize in den Fokus.
Die Europäische Union hat für ihre industrie- und innovationspolitischen Strategien sechs Schlüsseltechnologien für Europa identifiziert.
- Fortschrittliche Fertigungstechniken (z. B. 3D-Druck in Raum- und Luftfahrt oder Medizintechnik),
- (Nano-)Materialien (z. B. Graphen für Elektronik und Batterietechnologien, Nanobeschichtungen),
- Life-Science Technologien (z. B. Genomsequenzierung für Präzisions- bzw. personalisierte Medizin),
- Mikro- und Nanoelektronik (z. B. Mikroprozessoren für Computer oder Maschinen, Silizium-Photonik für die Datenübertragung mit Licht auf Halbleiterchips),
- Photonik (z. B. optische Kommunikationssysteme über Glasfasertechnik, Hochpräzisions-Laser für medizinische Anwendung) sowie
- Quantentechnologien (z. B. Quantencomputer, Quanten Sensing für Diagnostik und Navigation und Quantenkryptographie).
Von KETs zu GPTs – wie bitte?
Schlüsseltechnologien oder auch KETs nehmen eine wichtige Rolle in der wirtschaftlichen Entwicklung ein. Sie sind Katalysatoren für Innovation in verschiedenen Wirtschaftsbereichen, sie ermöglichen weitere Technologien oder treiben deren Weiterentwicklung voran. Sie sind der erste Schritt in die Welt von morgen. Sie bilden auch die Vorstufe von General Purpose Technologien (GPTs). Die meisten von uns kennen den Begriff von einer beliebten KI-Applikation: ChatGPT. GPTs sind Technologien, die nicht nur einzelne Wirtschaftsbereiche, sondern gleich gesamte Volkswirtschaften beeinflussen. Sie haben das Potenzial, Gesellschaften durch ihren Einfluss auf bestehende wirtschaftliche und soziale Strukturen drastisch zu verändern. Damit gehen sie über die anfänglichen Wirkungsbereiche von KETs weit hinaus. Zu den GPTs zählen Technologien wie Elektrizität, die Dampfmaschine und der Computer und derzeit Künstliche Intelligenz.
Die Strategie vieler Industrienationen und auch die der Europäischen Union ist nun, über Schlüsseltechnologien die Basis für zukünftige GPTs zu schaffen. Technologieführerschaft und die mit ihr versprochene Wertschöpfung, Beschäftigung und versprochenen hohen Gewinnmargen sind der Köder am Ende der Angel.
Wie Schlüsseltechnologien und GPTs die Produktivitätspeitsche ansetzen
Mario Draghi attestierte in seinem Bericht an die Europäische Kommission, dass Europa unter einer Innovationslücke leide. Der Abstand zur Technologieführerschaft werde laut Draghi zwischen Europa den USA und China immer größer. Es drohe ein Verlust an Wohlstand und Beschäftigung und eine zunehmende strategische Abhängigkeit von Dritten. Aus diesem Grund ist es das Ziel der Mitgliedstaaten, die Innovationsfähigkeit und -kraft zu steigern. Um zu diesen Produktivitätssteigerungen zu kommen, legt man alle Hoffnung auf Schlüsseltechnologien und GPTs. Beide haben dabei unterschiedliche Wirkung auf die Produktivität. Schlüsseltechnologien wirken als Innovationstreiber und führen zur Entwicklung von neuen Produkten und Prozessen. GPTs wirken dagegen disruptiv. Sie führen zu globalen Veränderungen und zum Entstehen gänzlich neuer Märkte. Schlüsseltechnologien gelten deshalb als „Enabler“ für Innovation und Wettbewerbsfähigkeit, während GPTs in ihrem Einfluss noch viel grundlegender und weitreichender sind. GPTs sind demnach auch Schlüsseltechnologien mit besonders breiter und transformativer gesellschaftlicher Wirkung und folgen in ihrer Entwicklung einer Produktions-J-Kurve. Diese Kurve beschreibt eine dreiteilige Entwicklung. Im ersten Schritt erzeugen GPTs Anpassungen von Arbeitsabläufen, Infrastrukturen und Qualifikationen. Es kommt dadurch zu kurzfristigen Produktivitätsverlusten. Alte Strukturen werden aufgegeben und neue müssen erst entstehen. Danach folgt eine Lern- und Anpassungsphase, in der neue Geschäftsmodelle und Prozesse entstehen und neue Kompetenzen angeeignet werden. Die dritte und letzte Phase ist von einem massiven Produktivitätsschub gekennzeichnet. Sobald die Technologie tief genug in alle Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft vorgedrungen ist, entstehen sprunghafte Produktivitätssteigerungen. Gesellschaft und Wirtschaft profitieren von anhaltend neuen Effizienzgewinnen, mehr Output, besseren Produkten und neuen Märkten.
Das zentrale Anliegen von Industrie- und Innovationsstrategien ist es deshalb, Schlüsseltechnologien frühzeitig zu erkennen und ihre rasche Verbreitung zu fördern. Schlüsseltechnologien stehen insbesondere deshalb im Fokus der Strategien, da sie eine unmittelbare, steuerbare und sichtbare Wirkung auf Wirtschaft, Industrie und Gesellschaft entfalten und besser mit nationalen und vor allem sektoralen Zielsetzungen vereinbar sind als die breiter wirkenden, schwerer zu identifizierenden und zu steuernden GPTs.
Internationale Industrie- und High-Tech-Strategien
Internationale Beispiele, die dies zeigen, gibt es derzeit viele und auch immer mehr. So zeigt dies die erst kürzlich veröffentlichte High-Tech-Strategie 2025 in Deutschland. Sie konzentriert sich in ihrer Ausrichtung bewusst auf Schlüsseltechnologie wie Künstliche Intelligenz, Robotik, Mikro- und Nanoelektronik, Quantentechnologien, Biotechnologien sowie neue Materialien. Man kann hier, ähnlich wie bei den strategischen Festlegungen auf europäischer Ebene, die Festlegung auf Querschnittstechnologien erkennen. Innovation soll in vielen Branchen gleichzeitig vorangetrieben werden. Von der Medizin über die Energiewende bis hin zur Mobilität.
Auch Großbritannien setzt in seiner Industriestrategie auf ganz ähnliche Schlüsseltechnologien. In seiner 10-Jahres Strategie zur Stärkung von Investitionen und zukunftsträchtigen Industrien setzt es auf acht strategische Sektoren und hat einen starken technologischen Fokus auf so genannte „AI Growth Zones“ der Künstlichen Intelligenz und der Quantentechnologien sowie saubere Energien durch Offshore Windkraft und Kernfusion.
Japan setzt auf eine neue Gesellschaftsvision auf Basis von Schlüsseltechnologien. Japans Strategie spricht von einer „Super-Smart Society“, die die physische und die digitale Welt zunehmend miteinander verbindet. Die dafür identifizierten Schlüsseltechnologien sind neben Künstlicher Intelligenz Big Data, Smart Cities und autonome Mobilität.
China strebt seit seiner „Made in China Strategie 2025“ die globale Technologieführerschaft in vielen Schüsseltechnologien an. Einen starken Fokus legt China auf grüne Technologien der Energiewende, aber auch auf Künstliche Intelligenz, High-End-Maschinenbau und Robotik, Biomedizin, Raumfahrt und neue Materialien.
Es ist nicht alles Gold, was glänzt: Verteilungseffekte von Schlüsseltechnologien
Doch ist Technologie und deren Rolle in der Gesellschaft nie neutral. Sie entwickelt sich innerhalb gesellschaftlicher Strukturen und beeinflusst diese. Die Verteilungseffekte einer High-Tech-Wirtschaft zeigen sich deshalb ambivalent. Oft führen Hochtechnologien zu einer ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung, da Produktivitätsgewinne, Einkommenszuwächse und Chancen überproportional bei Qualifizierten, Kapitaleignern und innovativen Unternehmen anfallen, während im unteren Qualifikationssegment Arbeitslosigkeit und Prekarisierung zunehmen. Dies betrifft auch regionale Ungleichheiten, die dadurch zunehmen können, zum Beispiel zwischen Städten und dem ländlichen Raum. Besonders sichtbar werden diese Entwicklungen beim Megatrend der Digitalisierung, wo Marktkonzentration und algorithmisch gesteuerte Prozesse, Monopole in Infrastruktur oder Software bestehende Ungleichheiten weiter verstärken. Diskriminierende Zugangsbeschränkungen spielen hier eine besonders große Rolle. So profitieren Einkommensstarke, Hochqualifizierte und Innovationszentren immer als Erstes und am stärksten, während einkommensschwache Gruppen erst zu spät Zugang zu den Vorteilen innovativer Technologien erhalten. Dies verstärkt das soziale Gefälle weiter. Bekannt ist dieses Phänomen durch das „Innovativeness/Needs Paradox“. Ein Beispiel dafür ist der Digital Skills Gap. Es braucht daher eine bewusste politische Anstrengung, die verteilungspolitischen Auswirkungen von Hochtechnologien zu adressieren, um durch technologische Entwicklungen vorgerufene verteilungspolitische Spannungen frühzeitig anzusprechen.
Innovationen für die Massen
Eine High-Tech-Wirtschaft verspricht Fortschritt und Wohlstand. Gleichzeitig profitieren nicht alle gleichermaßen von ihr. Während die Gewinner:innen in Innovationszentren rasch Kapital anhäufen, bleiben viele andere zurück. Wer gut ausgebildet ist oder Zugang zu neuen Technologien hat, das notwendige Geld besitzt oder gar die Technologien selbst sein Eigentum nennt, steht ganz vorne, während alle anderen um ihre Perspektiven, gesellschaftliche Teilhabe und ihre Arbeitsplätze bangen. So entsteht ein Paradox: Hochtechnologien sollen schließlich für alle das Leben verbessern, doch ohne politische Steuerung droht die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufzugehen. Damit eine High-Tech-Wirtschaft tatsächlich gerecht ist, braucht es entsprechende Rahmenbedingungen und politischen Willen zur Gestaltung. Zentrale Werkzeuge dazu sind Bildung, Steuern und Infrastrukturen, welche Teilhabe ermöglichen und soziale Schieflagen gezielt adressieren. Investitionen in Bildung und Weiterbildung sind dafür ebenso ausschlaggebend wie starke Institutionen, die benachteiligten Gruppen Zugang zu technischen Entwicklungen ermöglichen. Darüber hinaus braucht es gute öffentliche Dienstleistungen, eine hochwertige Infrastruktur und ein Bewusstsein für regionale Förderung, damit nicht nur einige wenige Innovationszentren profitieren. Wohlstand und Fortschritt durch Hochtechnologie gibt es nur durch eine kluge Steuerung und Kontrolle, wie der Innovationsforscher Neil Lee betont.
Schlüsseltechnologieoffensive in Österreich
An all das muss Österreich in ihrer im Frühjahr 2025 angekündigten umfassende Industriestrategie für den Standort Österreich anschließen. Um die Produktivität zu steigern und Wohlstand langfristig abzusichern, brauchen wir ein Bekenntnis zu Hochtechnologien. Gleichzeitig muss auf die Balance und die breite Beteiligung der Bevölkerung an den Vorteilen dieser Technologien geachtet werden. Nur ein inklusiver Fortschritt, welcher alle mitnimmt, ist auch ein tatsächlicher. Die Industriestrategie, in deren Kern eine Schlüsseltechnologieoffensive stehen soll, braucht neben einer klaren Fokussierung auf Schlüsseltechnologien auch einen Schwerpunkt auf die sozialen Rahmenbedingungen, in denen technischer Fortschritt stattfindet. Es reicht eben nicht nur, auf die bestehenden Stärkefelder Österreichs, wie der Mikro- und Nanoelektronik, Quanten- und Weltraumtechnologien, der Kreislaufwirtschaft und neuer Materialien, zu setzen. Jedenfalls wird mit den Diskussionen rund um die österreichische Industriestrategie eines schon deutlich: Spät aber doch kommt auch hierzulande Bewegung in die Debatte, wohin sich Österreichs Wirtschaft entwickeln soll. Von einer technologieoffenen „Everything-Goes“-Mentalität sollen nun die durch den Konsolidierungsdruck begrenzten Mittel gezielter und effektiver verwendet werden. Es wird darauf zu achten sein, dass darin die soziale Dimension des technologischen Fortschritts ebenso eine Rolle spielt wie die Technologien selbst. Dann können wir die gute Ausgangslage auf Basis der österreichischen Stärken – einer hohen Qualität in der Forschung, einer guten Infrastruktur und hochqualifizierte Beschäftigte – klug im Sinne des Standorts für Arbeitsplätze und Wohlstand in Zukunft nutzen.