Aufstiegsmöglichkeiten über Generationen: Die Ungleichheit von Chancen und Ergebnis in Öster­reich

17. Dezember 2025

Fünf Generationen. So lange dauert es in Österreich im Schnitt, bis Kinder aus den ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung das Durchschnittseinkommen erreichen. Das zeigte 2018 ein viel diskutierter OECD-Ungleichheitsbericht, der Österreich bei der sozialen Mobilität unterdurchschnittliche Werte bescheinigte. Nun hat die OECD einen neuen Bericht vorgelegt. Zeit für eine Bestandsaufnahme: Wo steht Österreich heute? Und was bedeuten die Erkenntnisse für die Politik?

Neue Methode zur Messung von sozialer Mobilität eingesetzt

Mit der soeben vorgelegten Studie „How to Bridge the Gap in Opportunities“ beschreitet die OECD einen neuen methodischen Weg: Im Gegensatz zum Bericht „A Broken Social Elevator?“aus 2018 verwendet sie diesmal nicht die „Standardmethode“ zur Berechnung sozialer Mobilität. Diese wurde bislang meist anhand des Sozialstatus von zwei Generationen gemessen, d. h. wie stark das Einkommen, das formale Bildungsniveau oder der Beruf der Eltern und jene der Kinder miteinander korrelieren. Je stärker diese miteinander zusammenhängen, desto geringer die soziale Mobilität. Der Fokus lag also bisher auf „Ergebnisungleichheiten“ (inequality of outcomes), d. h. den Unterschieden der konkreten sozialen Lebenslagen zwischen den Generationen.

Im neuen Bericht spricht die OECD nun explizit von „Chancenungleichheiten“ (inequality of opportunities), also wie ungleich die Möglichkeiten sozialen Aufstiegs für den Einzelnen sind. Die Frage, ob es wichtiger ist, sich mit Ergebnis- oder Chancenungleichheit zu beschäftigen, verfolgt die Gerechtigkeitsforschung schon seit Langem. Klar ist jedoch: Die beiden Formen lassen sich nicht voneinander trennen: Denn die tatsächlichen Ergebnisungleichheiten von heute prägen die Chancen von morgen.

Die zentrale Frage im diesjährigen Bericht lautet nun: Wie viel der heutigen Ungleichheit lässt sich durch Faktoren erklären, die Menschen nicht beeinflussen können? Als „nicht beeinflussbare Faktoren“ definiert die OECD Merkmale wie das Geschlecht, das Geburtsland, den Migrationshintergrund, die Bildung der Eltern und das Wohnumfeld in der Kindheit. Gemessen wird, welchen Einfluss diese Merkmale auf das Ausmaß der Ungleichheit haben. Die Idee dahinter: Unterschiede, die auf eigene Anstrengung zurückgehen, gelten als „fair“. Unterschiede, die man nicht individuell beeinflussen kann, sind hingegen „unfair“ und müssen politisch adressiert werden. Allerdings ist diese Unterscheidung selbst nicht unproblematisch. Denn „faire“ und „unfaire“ Faktoren lassen sich kaum voneinander trennen. Die individuelle Leistungsfähigkeit – wie viel jemand lernt, wie hart jemand arbeitet – hängt stark vom sozialen Umfeld und den materiellen wie immateriellen Ressourcen ab, die einem mitgegeben wurden. Ebenso von sozialen Verpflichtungen, wie der Betreuung von Kindern oder älteren Angehörigen.

Die Herstellung von gleichen Startchancen für alle ist in einer strukturell ungleichen Gesellschaft daher auch weitgehend utopisch, was aber nicht bedeutet, dass sich dadurch nicht die Lebenschancen vieler verbessern können. Dementsprechend hat der neue methodische Ansatz der OECD auch einen Vorteil: Er macht sichtbar, wo Politik konkret ansetzen kann, um zumindest die Chancenungleichheiten, die unmittelbar aus „nicht beeinflussbaren Faktoren“ entstehen, zu verringern.

Wo liegt nun Österreich? Chancenungleichheit im internationalen Vergleich

Während Österreich im OECD-Bericht von 2018 bei der sozialen Mobilität noch unterdurchschnittlich abgeschnitten hatte, ergibt sich mit der neuen Berechnungsmethode ein etwas anderes Bild: 23 Prozent der Chancenungleichheit lassen sich hierzulande auf für die bzw. den Einzelne:n „nicht beeinflussbare“ Faktoren zurückführen. Dieser Wert liegt unter dem OECD-Durchschnitt von 28 Prozent. Island, Dänemark und Finnland sowie die Schweiz sind Länder, in denen Herkunftsfaktoren eine noch deutlich geringere Rolle spielen. Am anderen Ende der Skala liegen Bulgarien mit 50 Prozent sowie Rumänien und die USA mit jeweils 42 Prozent. In diesen Ländern entscheiden „nicht beeinflussbare“ Faktoren also besonders stark über die späteren Lebenschancen.

Was der Bericht jedoch nicht leistet, ist eine Analyse der übrigen 77 Prozent: Sind dies also allesamt „faire“ Unterschiede, welche sich nur durch die eigene Leistung und nicht durch die Herkunft erklären lassen? Andere Studien lassen eher das Gegenteil vermuten: So haben Kinder von Führungs- oder Fachkräften in Österreich eine 3,3-mal höhere Wahrscheinlichkeit, selbst einmal in derartigen Positionen tätig zu sein, als Kinder aus Arbeiter:innenfamilien. Des Weiteren sind Segmentierungs- und Prekarisierungstendenzen und das Auseinanderklaffen der Einkommen von Top-Manager:innen und dem Durchschnitt der arbeitenden Bevölkerung auch am österreichischen Arbeitsmarkt ein reales Problem. Für Fragen der sozialen Mobilität spielen sie insofern eine Rolle, da sie die finanziellen Ressourcen von Eltern ungleich verteilen oder strukturelle Barrieren in bestimmten Arbeitsmarktsegmenten auch über Generationen hinweg befördern.

Was beeinflusst soziale Mobilität am stärksten?

Fokussiert man die Analyse dennoch, wie die OECD es in ihrem neuesten Bericht macht, auf jene 23 Prozent, welche auf „nicht beeinflussbare Faktoren“ wie das Geschlecht, den Migrationshintergrund oder die Bildung der Eltern zurückzuführen sind, so treten doch einige überraschende Ergebnisse zutage.

Auffallend ist: In Österreich spielen migrationsbezogene Faktoren eine außergewöhnlich große Rolle für die Lebenschancen. Das eigene Geburtsland erklärt rund 14 Prozent der in Österreich gemessenen Chancenungleichheit. Nur in Schweden spielt das eigene Geburtsland eine noch größere Rolle als in Österreich. Das Geburtsland der Mutter weist sogar den höchsten Einfluss im gesamten OECD-Ländervergleich auf, jenes des Vaters den zweithöchsten. Zusammengerechnet erklären die migrationsbezogenen Faktoren fast 47 Prozent der gemessenen „unfairen“ Chancenungleichheit in Österreich. Zum Vergleich: Der sozioökonomische Hintergrund beider Elternteile (also Bildung und Beruf von Vater und Mutter) kommt zusammen auf etwa 36 Prozent. Das ist bemerkenswert, denn in den meisten OECD-Ländern sind Bildung und Beruf der Eltern und nicht die migrationsbezogenen Faktoren die mit Abstand wichtigsten Faktoren für Chancenungleichheit.


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Während im OECD-Durchschnitt die Bildung des Vaters vielfach eine deutlich größere Rolle für die Chancen der Kinder spielt als jene der Mutter, ist der Einfluss in Österreich mit 11 Prozent bzw. 10 Prozent ähnlich hoch. Der Urbanisierungsgrad, also ob jemand in der Stadt oder am Land aufwächst, spielt in Österreich mit nur 4 Prozent eine nachgeordnete Rolle, während dieser Faktor in anderen Ländern durchaus relevant ist. Auch die elterliche Anwesenheit und ob die Kinder im Wohneigentum aufwuchsen, spielt eine untergeordnete Rolle.

Wie wird soziale Mobilität bewertet?

Die OECD hat nicht nur objektive Daten ausgewertet, sondern auch untersucht, wie Menschen in den verschiedenen Ländern über Chancenungleichheit denken: Je größer die von der OECD berechnete Chancenungleichheit in einem Land ist, desto mehr glauben die Menschen dort, dass Herkunft über Erfolg entscheidet, und desto größer ist auch der Wunsch nach politischen Maßnahmen. In Österreich sind 36 Prozent der Befragten überzeugt, dass es „essenziell“ oder „sehr wichtig“ ist, aus einer wohlhabenden Familie zu stammen, um im Leben voranzukommen. Zugleich wünscht sich fast jede:r Siebte, dass mehr getan werden sollte, um die Chancengleichheit zu verbessern. Wenn Kinder aus einkommensschwachen oder migrantischen Familien geringere Aufstiegschancen und auch geringeren Glauben an die Möglichkeit des Aufstiegs haben, ist das nicht nur ungerecht. Es schwächt auch den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Talente bleiben ungenutzt, Potenziale werden verschenkt.

Was nun getan werden muss: Lehren aus dem OECD-Bericht

Der neueste OECD-Bericht zur sozialen Mobilität fokussiert auf einen Aspekt der Chancenungleichheit, jenen der sich aus „nicht beeinflussbaren Faktoren“, wie dem Geschlecht, der regionalen oder der sozialen Herkunft, ergibt. In Österreich spielen hier insbesondere das Geburtsland sowie die regionale Herkunft der Eltern eine große Rolle. Um diesem Effekt entgegenzuwirken, braucht es jedenfalls ein breites Maßnahmenbündel. Klar ist, dass das Bildungssystem sicherlich der erste und zentrale Ort ist, an dem Chancengleichheit im Generationenvergleich hergestellt oder verhindert wird. Aber auch die Integrationspolitik sowie die Sicherung sozialstaatlicher Unterstützungsstrukturen und vermögensbezogene Steuern sollten zur Priorität werden:

  • Bedarfsorientierte Schulfinanzierung konsequent umsetzen: Der kürzlich von der Bundesregierung eingeführte Chancenbonus ist ein wichtiger erster Schritt. Er orientiert sich am AK-Chancenindex, der auf Basis des elterlichen Bildungsstands und der familiären Alltagssprache zusätzliche Ressourcen für besonders herausgeforderte Schulstandorte bereitstellt. Doch der Bonus muss ausreichend hoch und langfristig gestaltet sein, um seine Wirkung an Schulstandorten nachhaltig zu entfalten – dann aber bringt er in absehbarer Zeit sogar mehr volkswirtschaftliche Einsparungen als Ausgaben.
  • Sprachförderung ausbauen: Die eben erfolgte Ausweitung des Deutschförderpersonals an Schulen und die Reform der Deutschförderklassen hin zu flexibleren, integrativeren Modellen sind richtige Schritte. Im Sinne einer umfassenden sprachlichen Bildung, die nicht nur Deutsch, sondern sämtliche sprachlichen Kompetenzen der Schüler:innen fördert, brauchen Schulen mit hohem Anteil mehrsprachiger Kinder aber auch eine flächendeckende Verankerung von Sprachbildungskoordinator:innen am Standort und darauf aufbauende, standortspezifische Sprachbildungskonzepte.
  • In die frühe Bildung investieren: Kindergärten und Elementarpädagogik sind der Schlüssel zu mehr Chancengleichheit. Hier werden die Grundlagen für späteren Bildungserfolg gelegt. Kostenfreie, hochwertige Betreuungsplätze für alle Kinder ab dem zweiten Lebensjahr, bessere Ausbildung und Bezahlung für Elementarpädagog:innen, kleinere Gruppengrößen – das wären Investitionen, die sich langfristig auszahlen, nicht nur individuell, sondern auch volkwirtschaftlich.
  • Das Schulsystem grundlegend reformieren: Die frühe Selektion nach der Volksschule sowie die ungleiche Verteilung nach Schulstandorten verstärkt bestehende Ausgangsungleichheit. Studien zeigen: Kinder aus bildungsfernen und migrantischen Familien werden bei gleicher Leistung seltener für das Gymnasium empfohlen. Ein längeres gemeinsames Lernen würde allen Kindern mehr Chancen geben, ihre Talente zu entfalten.
  • Übergänge besser begleiten: Besonders kritisch ist der Übergang von der Pflichtschule zu weiterführenden Schulen oder Ausbildungen. Kontinuierliche Orientierungsangebote ab der Volksschule, professionelle Beratung für Jugendliche und Eltern sowie niederschwellige Angebote, die auch Familien ohne akademischen Hintergrund und ohne Erfahrungen bzw. Netzwerke im österreichischen Bildungssystem erreichen, sind vor diesem Hintergrund wichtige Instrumente.
  • Arbeitsmarkt-Integrationschancen verbessern: Im Sinne der Beschäftigten wie der Wirtschaft müssen ausländische Abschlüsse schneller und unbürokratischer anerkannt werden können, da durch dequalifizierte Beschäftigung viel bereits vorhandenes Kompetenzpotenzial von Arbeitskräften verloren geht. Zugleich müssen Diskriminierungsstrukturen am Arbeitsmarkt, von der Bewerbung über die Arbeitsbedingungen bis zur Entlohnung nachhaltiger bekämpft werden, will man soziale Mobilität ermöglichen.
  • Sozialstaatliche Sicherung & Finanzierungsgerechtigkeit: Chancengleichheit beginnt bei materieller Sicherheit: Wer ums tägliche Überleben kämpft, hat weniger Ressourcen für Bildung und Aufstieg. Gut ausgebaute Sozialstaaten können daher auf der einen Seite die Startchancen jedes Kindes, unabhängig von seiner Herkunft, erhöhen. Auf der anderen Seite können Vermögens- und Erbschaftssteuern dazu beitragen, dass Wohlstand und die damit verbundenen Chancen nicht ausschließlich innerhalb privilegierter Familien weitergegeben werden.
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