EU-Mobilitätspaket – ein zahnloser Tiger im Lkw-Verkehr?

09. Dezember 2025

Der Großteil der Waren in Europa wird per Lkw transportiert – und viele Fahrer:innen arbeiten dabei unter Bedingungen, die kaum jemand freiwillig auf sich nehmen würde: lange Tage, wenig Schlaf, mangelhafte Infrastruktur und kaum Zeit für Familie. Eine aktuelle Befragung zeigt, wie belastend der Alltag auf Europas Straßen wirklich ist – und dass selbst neue Regeln der EU daran bisher wenig ändern.

Verstöße gegen bestehende Regeln sind Alltag statt Ausnahme

Schon beim Blick auf die Zahlen wird klar, wie hart der Job ist: Im Schnitt arbeiten Fahrer:innen an Arbeitstagen 12,7 Stunden. Ein Fünftel überschreitet dabei die gesetzlich erlaubten 60 Wochenstunden. Den vielen Stunden steht dabei ein niedriger Stundenlohn gegenüber: 9,83 Euro erhalten die Fahrer:innen im Median – deutlich niedriger als der Einstiegslohn nach österreichischem Kollektivvertrag. Dieser lag im Vergleichszeitraum 2023 bei 10,77 Euro. Ein hoher Teil der Löhne, die die mehrheitlich osteuropäischen Fahrer:innen erhalten, wird dabei als Diäten ausbezahlt, die nicht Teil der Berechnungsgrundlage für Sozialbeiträge sind. Der Verband der Europäischen Transportarbeiter:innen berichtet zudem davon, dass die Nichteinhaltung von Pausenzeiten eine häufige Praxis ist.

Mit 2020 wurden auf europäischer Ebene mit dem Mobilitätspaket einige Besserungen auf den Weg gebracht, die seit Anfang 2022 in Kraft sind.

So dürfen etwa Wochenruhezeiten nicht mehr im Lkw verbracht werden und es müssen die Kosten für die Unterbringungen durch die Unternehmen getragen werden. Zudem wurde eine Cooling-off-Phase nach Kabotagefahrten eingeführt und es müssen Fahrer:innen und Fahrzeug regelmäßig zu ihrem Heimatort zurückkehren. Die Wirksamkeit des Mobilitätspakets ist jedoch fraglich. In der Straßenbefragung im Sommer 2023 berichteten Fahrer:innen von einer hohen Zahl von Gesetzesbrüchen. Besonders augenscheinlich sind dabei folgende Übertretungen:

  • Übernachtung: Fast 39 Prozent der befragten Fahrer:innen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten sowie 48 Prozent der Drittstaatsfahrer:innen müssen nach wie vor auch am Wochenende in ihrem Fahrzeug übernachten und die Hälfte erhält keinen Kostenersatz bei Übernachtungen außerhalb der Fahrerkabine.
  • Arbeitszeit: 43 Prozent der Fahrer:innen arbeiten in Reisewochen länger als die erlaubten 60 Wochenstunden (48 Prozent der Nicht-EU-Fahrer:innen).
  • Lohnbestandteile: 47 Prozent geben an, für Ladezeiten, 46 Prozent für Wartezeiten nicht entlohnt zu werden.
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Liberalisierung des Straßengüterverkehrs

Vom einst gesellschaftlich so bewunderten Beruf ist wenig geblieben. Mit der Schaffung des gemeinsamen europäischen Binnenmarkts im Jahr 1985 wurde auch der Straßengüterverkehr liberalisiert. Damit wurden Tür und Tor dafür geöffnet, ökonomische Unterschiede innerhalb der Union nach unten zu nivellieren. Der Wettbewerb hat sich verschärft und der Preisdruck ist gestiegen. Immer wieder gibt es Berichte von Fahrer:innen aus Drittländern, die unter besonders prekären Bedingungen beschäftigt sind. So beispielsweise im Zuge des TransFair-Projekts, das die Geschichte von durch einen österreichischen Frächter angeworbenen kirgisischen Fahrer:innen erzählt. Die Aufenthaltsgenehmigung dieser Nicht-EU-Fahrer:innen ist häufig an das Dienstverhältnis geknüpft. Die eigenen Rechte können sie kaum einfordern, wenn die Kündigungsdrohung schon den eigenen Aufenthalt infrage stellt.

Seit der EU-Osterweiterung hat sich der Trend einer Ostverschiebung des europäischen Straßengüterfernverkehrs verstärkt. Die Lohnunterschiede innerhalb der EU sind dabei ein starker Treiber für die Unternehmen, die sich in einem gesamteuropäischen Wettbewerb um Dumpingpreise befinden. Doch wie zeigt sich die Ostverschiebung?

Ostverschiebung und die Konsequenzen

Beinahe zwei Drittel der Transportleistung im europäischen Straßengüterverkehr werden durch Frächter:innen aus den seit 2004 neu hinzugekommenen EU-Mitgliedsstaaten (EU-13-Staaten) erbracht. Konkreter können diese Transporte in nationale sowie grenzüberschreitende Transporte unterschieden werden. Doch auch immer mehr der nationalen Transporte werden durch ausländische Frächter:innen vollbracht – ein Phänomen, das als Kabotage bezeichnet wird. Drei Viertel der Kabotage in der EU werden dabei mittlerweile durch osteuropäische Länder geleistet. Nach einer Untersuchung der Wirtschaftsuniversität für Österreich sind diese Zahlen aber zu hinterfragen und dürften in Wahrheit noch deutlich höher liegen.

Nicht nur die Transporte selbst, sondern auch die Unternehmen orientieren sich nach Osteuropa, um die Möglichkeit, die eigenen Kosten zu drücken, auszureizen. Das gewerkschaftliche TransFair-Projekt erläutert, dass heimische Frächter:innen damit beginnen, Subaufträge an osteuropäische Frächter zu vergeben. Zahlreiche osteuropäische Töchter von westeuropäischen Frächtern sprießen aus dem Boden. Zwei Drittel der Unternehmen in den EU-13-Staaten haben westeuropäische Mehrheitsanteileigner:innen. Und spätestens seit 2014 sind mehr als die Hälfte selbst der Fahrzeuge der heimischen Frächter:innen im Ausland registriert – um, wie ganz offen zugegeben wird, die Lohn- und Lohnnebenkosten zu senken.

Doch das Ende der Fahnenstange scheint noch nicht erreicht: Seit einigen Jahren steigen die Zahlen der in der EU zugelassenen Fahrer:innen aus Drittstaaten – wie im erwähnten Fall der kirgisischen Fahrer:innen – nach Daten der Europäischen Kommission exponentiell an. Damit ist ein weiteres Ansteigen des Drucks, Personalkosten zu senken und rechtliche Rahmenbedingungen zu ignorieren, zu erwarten. In der erwähnten Straßenbefragung hatten gar bereits über ein Fünftel der Fahrer:innen ihren Wohnsitz außerhalb der EU, während zwei Drittel der befragten Fahrer:innen in den EU-13 wohnen. Dass osteuropäische Fahrer:innen unter signifikant prekäreren Bedingungen arbeiten, zeigt sich auch in der Straßenbefragung.

Quelle: eigene Darstellung auf Basis der Umfragedaten
Verstöße gegen das Arbeitsrecht sind Alltag im Straßengüterverkehr
VerstoßgesamtEU-14EU-13Nicht-EUgemäß
Wöchentliche Höchstarbeitszeit (48h)55,59%65,84%51,79%55,77%Art 4, Richtlinie 2002/15/EG
Höchstarbeitszeit pro Reisewoche (60h)42,62%33,33%42,41%47,92%Art 4, Richtlinie 2002/15/EG
Mindesturlaub29,18%12,92%27,84%44,00%Art 6, Richtlinie 2003/88/EG
Übernachtung an Wochenenden außerhalb der Kabine36,50%3,03%38,92%48,21%Art 1 Abs 6, Verordnung (EU) 2020/1054
Erstattung der Übernachtungskosten50,22%44,00%49,35%55,77%Art 1 Abs 6, Verordnung (EU) 2020/1054
Rückkehr an den Wohnsitz nach 4 Wochen8,77%0,00%6,41%21,28%Art 1 Abs 6, Verordnung (EU) 2020/1054
Bezahlung von Ladezeiten47,20%25,00%48,48%56,60%Art 3, Richtlinie 2002/15/EG
Bezahlung von Wartezeiten45,88%17,24%47,40%56,60%Art 3, Richtlinie 2002/15/EG
Variable Entlohnung17,7%0,00%21,14%16,33%Art 10, Verordnung (EG) 561/2006
Fahrer:innenkarte5,32%22,58%3,89%0,00%§102a KFG
Entlohnung nach Dienstvertrag7,42%0,00%6,32%15,09% 
Arbeitszeiten nach Dienstvertrag12,02%10,34%13,07%9,43% 

So entsteht ein scheinbarer Konflikt zwischen ost- und westeuropäischen Fahrer:innen – tatsächlich aber profitieren vor allem jene Unternehmen, die die Kosten auf dem Rücken der Beschäftigten senken.

Die neuen EU-Vorschriften bleiben Papiertiger

Neben dem Druck der Interessenvertretungen und Gewerkschaften sind seit einigen Jahren zunehmende Proteste von Fahrer:innen zu beobachten, um ihrer wachsenden Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. So streikten 2023 etwa 150 Fahrer:innen eines polnischen Spediteurs in Hessen oder Anfang des Jahres mehrere Fahrer:innen aus Simbabwe eines deutschen Frächters. Das hat – neben hohen Unfallzahlen infolge von Übermüdung – zur Verschärfung des Arbeitsrechts und der vorgeschriebenen Kontrollen in den letzten Jahren geführt.

Trotz des Mobilitätspakets der EU bleibt die Realität für viele gleich: Sie schlafen im Lkw, arbeiten jenseits der erlaubten Zeiten und erhalten keinen Lohn für Wartephasen. Kontrollen sind rar, Strafen gering – ein Risiko, das viele Unternehmen bewusst einkalkulieren.

Solange Verstöße kaum Konsequenzen haben, bleibt das Mobilitätspaket ein Papiertiger. Unternehmen, die sich an Regeln halten, stehen im Preisduell aufgrund des steigenden Drucks in der Lieferkette schlechter da. Das geben Unternehmensvertreter:innen in einer Befragung an. Viele Frächter:innen steigern gleichzeitig ihre Gewinne – ein Zeichen dafür, wer vom jetzigen System profitiert.

Was es jetzt braucht

Ein echter Wandel setzt woanders an: Es braucht deutlich mehr und konsequenteres Vorgehen gegen die Verstöße gegen die EU-Schutzbestimmungen. Effektivere Schutzchecks durch die Behörden scheitern aktuell vor allem an den zersplitterten Zuständigkeiten. Deshalb braucht es eine Bündelung der Kompetenzen, um EU-Schutzstandards auch wirklich durchsetzen zu können. Verstöße müssen zudem spürbar sanktioniert werden.

Genauso entscheidend ist es, den Arbeitsmarkt der Lkw-Fahrer:innen als den gemeinsamen europäischen Markt wahrzunehmen, der er auch ist. Das heißt, die Fahrer:innen länderübergreifend zu organisieren, um so die gemeinsamen Interessen hervorzuheben. Damit könnte den Fahrer:innen der Rücken gestärkt werden, die am meisten dazu gedrängt werden, unter prekären Bedingungen und zu Dumpinglöhnen zu fahren. Das wäre auch im Interesse aller anderen Fahrer:innen. So könnte der Druck zum Angleich an den Branchentiefpunkt reduziert und die Grundlage dafür geschaffen werden, echte Verbesserungen im Arbeitsalltag auf der Straße durchzusetzen.


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